Katja Strunz
Eingeschlossene Zeit

29.10.2022 - 23.01.2023

Über die Ausstellung

Wir erleben eine „brüchige Gegenwart“ ¹, wie Hans Ulrich Gumbrecht formulierte, in der überlieferte Gewissheiten und Weltbilder zerfallen und neue Visionen für die Zukunft noch nicht entwickelt sind. Die Konstruktion von Zeit und Welt ist aus den Fugen geraten: Die Vergangenheit scheint nicht mehr unabänderlich vergangen, die Gegenwart ist verengt auf die Erwartung nahender Katastrophen, planetarisch-ökologisch oder politisch-kriegerisch. Es ist diese Atmosphäre der andauernden Krise, der Diskontinuitäten, der stolpernden Zeit, der Wiederholungen, in der die jüngsten Werke der Künstlerin Katja Strunz zu verorten sind und die nun unter dem Titel Eingeschlossene Zeit präsentiert werden.

Katja Strunz: „Das Einfalten von Material bezeichnet in meiner Arbeit metaphorisch ein Zusammenfallen von Hier und Dort, von Damals und Jetzt, eine posttraumatische Kontraktion, in der die Erfahrung des physischen Raums schwindet. In früheren Arbeiten und Ausstellungen stehen die Formen des Fallens und Einfaltens, des Kollabierens, Schrumpfens, Einbruchstellen und Fragmentierungen im Vordergrund. Die Ausstellung Eingeschlossene Zeit dreht sich um das Auffalten und um Momente des Anhaltens und des Neufaltens und der damit einhergehenden Transformation.“ ²

Are We Enfolding Or Going To Unfold lautet der fragende Titel eines Werkes, das in seiner blauen Farbgebung eine Beziehung zur hinter ihm liegenden Wand des Ausstellungsraums eingeht. Von einer metallischen, rechteckigen Bodenplatte ragen zwei Stelen empor, zueinander geneigt; zwischen ihnen befestigt ein in Falten gelegtes Stück Metall; wie ein Fächer füllt es den Raum zwischen den Stelen aus. Die Konstruktion scheint wie in einer Bewegung zu verharren, der metallene Fächer zwischen den Stelen still zu stehen zwischen Öffnung und Verschluss; ausladender Raumnahme und Einfaltung.

Katja Strunz: „Die Skulptur Are We Enfolding Or Going To Unfold stellt diesen transformativen Prozess zwischen der Ein- und Auffaltung dar. Sie spiegelt die Dimension des Weges als Einfaltung und Kontraktion und als Entfaltung und Ausdehnung im Raum. In der Traumatherapie werden Zyklen der Kontraktion und Expansion innerhalb des Nervensystems durchlaufen: Peter A. Levine spricht von der Einbruchstelle eines Traumas, welche einen Traumawirbel hinterlässt, der im Zyklus von Kontraktion und Expansion durchlebt wird. Die Wahrnehmung dessen gibt die Richtung vor. ³

Are We Sinking? Or Are We Going To Rise? fragt der Ökonom Otto Scharmer aktuell in seinem Aufsatz Protecting The Flame: Circles of Radical Presence in Times of Collapse. Auf der Suche nach Transformation eine Form finden ist die Skulptur: es geht dabei um ein Letting Go und ein Letting Come, um den Funken des Neuen – und es geht, wie Otto Scharmer es sagt, um Präsenz in Zeiten des Zusammenbruchs. Die Bewegungen im Arbeitszyklus Die drei Funken 1 – 3 verlangsamen sich. In der Farbigkeit der Arbeiten addiert sich ein emotionaler Ausdruck, der im kreativen Prozess die Wirkungskräfte der Auffaltung verbindet.“

In der aktuellen künstlerischen Auseinandersetzung von Katja Strunz tritt Zukunft als zu befragende Instanz hervor. Motive wie die Faltung, das Ineinanderschmiegen von Raum und Zeit, symbolisch deutbar als Einbruch der Geschichte in die Gegenwart, bleiben wiederkehrende Motive – doch sind es in diesen neuen Werken nicht nur die splitterhaften Verflechtungen von Vergangenheit und Gegenwart, sondern Möglichkeiten der Ent-Faltung von Zukunft, die befragt werden: die Schaffung eines Möglichkeitsraums, der veränderbar vorausliegt und nach dem Prinzip Hoffnung Ernst Blochs ausgerichtet ist: Hoffnung als kraftvolles, utopisches Potential, um nicht aussprechbare, nicht darstellbare Traumata zu überwinden; um eingeschlossene Zeit ins Fließen zu bringen.

Katja Strunz: „Die Formen – angelehnt an die Faltung – stehen für den Wandel in der Zeit, für die Komplexität menschlichen Daseins, das sich im Laufe der Zeit endlos auffächert. Ein- und Auffaltungen geben den Rhythmus vor.“

Strunz stellt Fragen nach den Möglichkeiten des Öffnens und Verschließens von Zeit und von Räumen, nach dem Umgang mit eingeschlossener Zeit, die aus dem ewig fortlaufenden Zeitstrahl chronologischen Denkens entrissen und hinter verriegelten Türen bewahrt wird, in einem Zwischenzustand außerhalb des fundamentalen Raum-Zeit-Kontinuums menschlichen Denkens und Handelns. Hier eröffnet sich die Verbindung zwischen Zeit und Erfahrung, Zeit und Körper, Zeit und Raum. Wie können wir uns den Raum vorstellen, in dem Zeit eingeschlossen wird? Ein Zimmer mit abgeschlossener Tür? Ein Moment der Sicherheit, geschützt von äußeren Eingriffen? Wie lassen sich Raum und Zeit öffnen und schließen? Der Werkprozess, der sich mit dem Wechsel von Einfaltung und Entfaltung beschäftigt, erinnert an die Dialektik geschichtlicher Entwicklung mit abwechselnd sich verschließenden Spielräumen und sich öffnenden Möglichkeiten; Momenten der Freiheit und des Zwangs. Katja Strunz fängt in ihren skulpturalen Arbeiten ebenso wie in den Werken auf Papier Bewegungen ein, die sich zwischen Steigen und Sinken, dem sich-Öffnen und Verschließen, Voranschreiten und Zurückblicken verorten. Sie zeugen darin weniger von Brüchen, sondern werfen vielmehr einen behutsamen Blick nach vorn, auf eine Welt im Entstehen.

Katja Strunz und Luisa Heese

Otto Scharmer ist Ökonom und Aktionsforscher am MIT Cambridge. Sein Aufsatz Protecting The Flame: Circles of Radical Presence in Times of Collapse erschien am 07.09.2022 auf seinem Blog: Field of The Future.

Peter Levine ist amerikanischer Biophysiker, Psychologe und Psychotraumatologe. Das Zitat entstammt dem Buch Trauma-Heilung, erschienen 1997 bei Synthesis, S.191-200.

Katja Strunz, * 1970, D. Lebt und arbeitet in Berlin.
Luisa Heese, * 1984, D. Direktorin des Museums im Kulturspeicher, Würzburg.

¹ Hans Ulrich Gumbrecht, Brüchige Gegenwart. Reflexionen und Reaktionen, Stuttgart 2019
² Katja Strunz, eingeschlossene Zeit, 14.10.2022
³ Peter A. Levine, Trauma-Heilung, Unsere Fähigkeit traumatische Erfahrung zu transformieren, Synthesis 1997, S.191-200.
⁴ Katja Strunz, eingeschlossene Zeit, 14.10.2022
⁵ Ebd.

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