Sofie Thorsen
Shards

28.01.—06.04.2022

Über die Ausstellung

Scherben

Datenrausch und globale Echtzeit-Kommunikation haben eine neue Form der medialen „Eigenzeit“ geschaffen. Die Möglichkeit, ununterbrochen über digitale Netzwerke mit allen verbunden zu sein, hat die Hoffnung zunichte gemacht, die Kontrolle über die Zeit behalten zu können. Die Vergangenheit schrumpft zusammen, die Zukunft entzieht sich der Steuerung. Das Gefühl von Zeitlosigkeit gepaart von dem der eigenen Vulnerabilität in einer aus den Fugen geratenen Welt ist kein Phänomen unserer von Pandemie, gesellschaftlichen Verwerfungen und Klimakrise beherrschten Gegenwart. Die Wiener Soziologin Helga Novotny hatte sich schon 1989 in ihrem Buch „Eigenzeit“ (1) mit der Frage beschäftigt, wie sich die Veränderungen in der Gesellschaft auf das Zeitgefühl auswirken. Das Empfinden über den Verlust von Zeit rückt gleichzeitig die Frage nach der eigenen Existenz und die Angst vor dem spurlosen Verschwinden in den Mittelpunkt, kurz die Frage, was und warum etwas von uns bleibt.

Die seit den späten 1990er Jahren in Wien lebende dänische Künstlerin Sofie Thorsen setzt sich seit Jahren in reduzierten Zeichnungen, Collagen und Skulpturen mit der Rolle von Archiven, Depots, historischen Bildmaterialien und archäologischen Sammlungen als Speicherorte unseres kulturellen wie soziopolitischen Gedächtnisses auseinander. Dabei sind es gerade die Lücken, die Fehlstellen, das, was aus dem gegenwärtigen kollektiven Erinnern oder dem sichtbaren Umfeld verschwunden ist, auf das die Künstlerin ihre Aufmerksamkeit lenkt. Denn was, wie gesammelt, archiviert, erforscht oder vernichtet wird, ist immer auch Spiegel einer bestimmten ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Situation. 

Grundlage für Sofie Thorsens großformatigen Schwarzweiß-Frottagen und Wandobjekte in ihrer aktuellen Ausstellung in der Galerie Krobath ist die archäologische Sammlung des Stadtmuseums Odense in Dänemark. Sie durchforschte die digitale Datenbank von prähistorischen Gefäßscherben, Steinwerkzeugen, Bronzeobjekten und Schmuckstücken, die akribisch vermessen, nummeriert und fotografiert wurden bevor sie wieder in das Depot verschwanden. Thorsen entzieht die Objekte gleichsam dem Vergessen, indem sie die Vorlagen vergrößert ausdruckt, vervielfältigt, entlang der Umrisse ausschneidet und zu Collagen zusammensetzt. Die so entstehende reliefartige Oberflächenstruktur erlaubt es der Künstlerin, die Brüche und Kanten der Objekte durch Abreiben auf die Papierbahnen zu übertragen.  Indem sie die collagierten Teile stets neu zusammensetzt, gegeneinander verschiebt oder spiegelt, schafft sie ein abstrakt-figuratives Formengefüge, das sich gegenseitig durchdringt und trotz der Reduktion auf die Umrisslinien der Objekte an räumlicher Qualität gewinnt. Verdichtete, sich gegenseitig überlagernde Formen wechseln sich mit großzügigen Leerstellen ab und wichtiger als die Wiedererkennbarkeit einzelner Formen sind die Beziehungen untereinander.  Neben dem Interesse am Material und dem formalästhetischen Erscheinungsbild der aus dem Archiv gewählten Artefakte ist es stets der bewusste methodologische Nachvollzug von der Anwendung eines bestimmten künstlerischen Mittels, das im Zentrum von Sofie Thorsens Überlegungen steht. Denn die Frage nach den Kriterien, wann, warum und welche künstlerische Methode als Vermittlungsform zur Anwendung kommt, bedingt formale wie inhaltliche Verschiebungen. So lässt sich individuelle wie kollektive Erinnerung mit einer Collage vergleichen. Versatzstücke aus der Vergangenheit werden fragmentiert, gegenüber- und zusammengesetzt und mit Blick auf die gegenwärtigen sozialen und kulturellen Verhältnisse kontextualisiert. Bedeutungen entleeren, überlagen und setzen sich bruchstückhaft neu zusammen. Indem Thorsen den konstruktiven Prozess der Collage dem automatisierten Verfahren der Frottage entgegensetzt, schafft sie einerseits Distanz zum Objekt als auch geisterhafte Nähe durch das schemenhaftes Auftauchen von Vergangenem in der Gegenwart. Max Ernst, der in den 1920er Jahren das Potenzial der Frottage für sich neu entdeckt hat, bezeichnete das Verfahren als „ein technisches Mittel, die halluzinatorischen Fähigkeiten des Geistes zu steigern, dass ‚Visionen‘ sich automatisch einstellen, ein Mittel, sich seiner Blindheit zu entledigen.“ (2)

Vielleicht ist es der Wunsch das Vergangene dem Vergessen zu entreißen, der Wunsch, dem Schemenhaften Faktizität und dem Ephemeren Dauerhaftigkeit zu verleihen, der Sofie Thorsen dazu führt, den sich im künstlerischen Prozess der Frottage einstellenden „automatischen Visionen“ wiederum durch kleine gegossene Bildreliefs materielle Präsenz zu verleihen. In der Zusammenschau dieser Ausstellung gelingt ihr ein dialektisches Spiel zwischen Distanz und Nähe, Anwesenheit und Abwesenheit in der unmittelbaren Präsenz des Raumes, ein Abbild einer Gesellschaft, die dabei ist, ihre in Scherben zerbrochene Gegenwart aufzusammeln und für die Zukunft neu zusammenzusetzen.

(1) NOWOTNY, Helga. Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Suhrkamp, 1989.

(2) Schamony, Ernst: Max Ernst, Münster, 2009, S. 32.

Text: Fiona Liewehr

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